Mittelerde, Tolkien, und die germanische Mythologie

Mittelerde, Tolkien, und die germanische Mythologie

Rudolf Simek: Mittelerde, Tolkien und die germanische Mythologie. München: C.H. Beck 2005

2005 erschien ein Taschenbuch in der der beck´schen reihe, betitelt Mittelerde, Tolkien und die germanische Mythologie verfasst von Rudolf Simek. Dieser ist Professor für mittelalterliche deutsche und skandinavische Literatur an der Universität Bonn und Autor einer Vielzahl von Fachpublikationen zu Religion und Kultur der Germanen, darunter einem Lexikon der germanischen Mythologie.

Er bezeichnet sich selbst als Tolkien-Fan und will mit diesem neuen Buch jüngeren begeisterten LeserInnen die vielen Bezüge von Tolkiens Büchern zur vorchristlichen germanischen und mittelalterlichen skandinavischen Literatur aufzeigen. Er behandelt vornehmlich Tolkiens The Hobbit, The Lord of the Rings und das Silmarillion in Verbindung mit den Texten der Lieder- und Prosa-Edda, der Island-Sagas und anderer altnordischer Literatur.
Tolkiens literarische Quellen wurden schon vielfach behandelt, und so bringt auch Simeks Buch generell nicht allzu viel Neues. Allerdings ist seine Spurensuche tiefer, weiter und akribischer als die anderer Tolkien-Fachleute, wobei nicht-altnordische oder altenglische Einflüsse wie etwa keltische oder griechisch-klassische oder das Finnische nur am Rande behandelt werden. Simek präsentiert diesen Quellenbefund in 10 Kapiteln, nach Themenbereichen geordnet, etwa Geographie und geografische Namen (Mittelerde, Meere, Sterne), Personennamen, Motive und Symbole (Ringmotiv, das zerbrochene Schwert, die Zahl Neun) und Gestalten, etwa Odin/Wotan, naturmythologische Elemente, freundliche/bedrohliche Mächte. Sehr ausführlich geht Kapitel 9 auf Tolkiens Verwendung und Weiterentwicklung von Runenschriften ein. Eine umfassende Literaturliste und ein genaues Register ergänzen die Analysen, die für einen nach Details und Vergleichen bezüglich Trollen, Zwergen, Drachen und Orks, Odin oder Schwertermotiv begierigen Leser durchaus interessant und lehrreich sind.

Bedeutsam fand ich Simeks einleitenden Hinweis bezüglich der Veränderung des Zugangs und Verständnisses von “Germanentum” seit Tolkiens Studienzeit vor fast 90 Jahren, u. a. auch wegen des so verhängnisvollen politisch-manipulierenden Missbrauchs, der damit getrieben worden ist: Heutzutage werden Texte differenzierter und kritischer betrachtet, ihr interdisziplinärer Zusammenhang mit religions-, literatur-, und sprachwissenschaftlichen und archäologischen Fachbereichen steht im Vordergrund. “Wir müssen daher wissenschaftshistorisch, ja gerade wissenschaftsarchäologisch vorgehen, um uns Tolkiens Gedankenwelt und seinem Zugang zu denselben oder ähnlichen Quellen, wie wir sie teilweise ja heute noch benutzen, anzunähern.” (Simek, Einleitung, S. 11). Sehr lobenswert ist in diesem Zusammenhang auch Simeks Bemühen, herauszufinden, welche nordische Literatur in welchen Ausgaben gegen Ende des 19. bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Tolkien Schüler und Student war, in Großbritannien erschienen und verfügbar war. Leider gibt es dazu vielfach ja nur Tolkiens eigene Angaben (aus Interviews oder Briefen) und das Wissen über die ihm tatsächlich bekannte Literatur ist beschränkt. (Es wäre für solche Belange überaus wünschenswert, die Curricula und verbindlichen Studientexte der Universitäten in Oxford oder Leeds zu Tolkiens Zeit zu studieren oder gar an J.R.R. Tol-kiens eigene Bibliothek heranzukommen, Anm. der Verfasserin).

Meines Erachtens verleitet dieser Mangel an Sicherheit bezüglich dessen, was Tolkien tatsächlich (be)-nutzte, Simek doch recht oft zu Spekulationen, im Sinne von “Tolkien könnte gekannt haben”. Dies wiederum löst bisweilen das Gefühl aus, dass es Simek bei der Fülle der Detailinformationen mehr genieße, den eigenen Wissensfundus darzustellen als jenen Tolkiens zu würdigen, – obwohl er Tolkien große eigenständige Kreativität zugesteht. Spekulationen können ja durchaus anregen, und öfters ist Simek durchaus überzeugend, wenn er Tolkiens eigene Aussagen korrigiert oder relativiert (etwas bezüglich des Vergleichs des Rings im LOTR mit Wagners Vorlage) – dies hat sich auch Tom Shippey erlaubt! Es gibt also viel Bekanntes vertieft, und recht Amüsantes und Kurioses zu entdecken (etwa die Einflüsse des Fränkischen, Normannischen, Langobardischen usw. auf die Namen der Hobbit-Genealogien).

Weniger vertrauenswürdig als die Fachbereiche waren mir einige Äußerungen Simeks im Sinne von Wertungen. Dabei sind nämlich einige Fehler oder Irrtümer passiert, die nicht nur auf Druckfehler oder schlampiges Korrekturlesen zurückzuführen sind (Druckfehler gibt es leider recht viele, so heißt Melian “Melion”, Valar kommen als “Alar” vor, das Reitervolk der “Rohan” statt “Rohirrim” … Ungenauigkeiten treten bereits in der kurzen Tolkien-Biografie des 1. Kapitels auf: Simek lässt Mabel Tolkien mit ihren zwei Kindern erst nach dem Tod des Vaters nach England zurückkehren, er nennt den Vorort Birminghams, in dem Tolkiens seine glückliche Kindheit verbrachte, Sarehole Mill anstatt Sarehole …
Noch gröbere Fehler können wohl nur durch zu oberflächliches Lesen und Missverstehen einiger Passagen erklärt werden. So schreibt Simek im Kapitel “Jenseitige Gefilde” (S. 44): “Die Undying Lands (in der Elbensprache: Valinor), wohin sich ein Teil der Elben von den Grey Havens aus vor dem Anbruch des 4. Zeitalters von Mittelerde nach einer Periode des Zusammenlebens mit den Menschen zurückziehen, können zwar von Gandalf (der eigentlich unsterblich ist), Gimli und den Ringträgern Bilbo, Frodo und Sam aufgesucht werden, sind aber sonst den irdischen Menschen sowie den Hobbits und Zwergen nicht zugänglich.” Richtig ist aber, dass die “exilierten” Elben und die Ringträger nach Tol Eressëa, aber keinesfalls nach Valinor, das ja entrückt worden war, segeln dürfen.

Völlig verwirrt ist folgende Aussage im Kapitel über das Motiv des Ringes (S. 164): “Die Macht des Ringes ist allgegenwärtig und führt auch noch zu einem dramatischen Moment der letzten Spannung im LOTR III, als Frodo und Gollum im Mount Doom um den Ring kämpfen – der letztere, um ihn im Interesse der Menschen und anderer wohlmeinender Wesen zu vernichten.” (!!!) Nicht nur werden hier Frodo und Gollum miteinander verwechselt, sondern es scheint dem Autor eine der wichtigsten Elemente der Geschichte des LOTR überhaupt entgangen zu sein, nämlich die Tatsache, dass Frodo der Versuchung des Ringes erlegen war und NICHT bereit war ihn zu vernichten.
Eine weitere unbegreifliche Feststellung steht im Kapitel “Der Eärendil-Mythos” (S. 178: “… so rätselhaft bleibt die Geschichte auch bei Tolkien. Dass er die Erklärung von der Erschaffung des Sterns aus der nordischen Mythologie, den Namen selbst aus der mittelenglischen Literatur (genauer dem “Crist” des Cynewulf) und die Deutung von Eärendil als Seefahrer aus dem mittelhochdeutschen Gedicht Orendel entnommen hat, zeigt nur einmal mehr, wie sehr ihn die Stofffreude auch bei einer so nebensächlichen Episode antrieb”. Diese Bewertung der Figur Eärendils als nebensächlich ist verblüffend, und steht in eklatantem Widerspruch zu allen Intentionen Tolkiens: Eärendil ist eine Erlösergestalt, von unabdingbarer Bedeutung für den Ausgang des Silmarillion im Sinne der Aufhebung der durch die Eide Fëanors ausgelösten Verbannung und Unglücks der Wesen in Mittelerde.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass Simeks Buch sehr viel interessantes, lesenswertes Detailwissen, darunter auch Amüsantes und Kurioses enthält, aber doch durch die angeführten Schlampigkeiten und Missverständnisse etwas an Wert einbüßt.

Alduild “Fimbrethil” Fürst

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